Dr. Marc Esser, Jennifer Riehn (veröffentlicht in PM-eReport 2011; 1(1):1-4)
Storytelling für Healthcare
Erzählen Sie die Erfolgsgeschichte Ihres Produkts: Bestimmt kennen Sie eine spannende Gründungsgeschichte eines Unternehmens. Vielleicht kennen Sie die Gründungsmythen von Apple oder Facebook, von Google und deren Protagonisten. Aber in der Pharmaindustrie oder in der Medizintechnik?
Hier müssen Sie vermutlich schon länger nachdenken, obwohl Sie ein Branchenkenner sind. Doch gerade solche »Storys« differenzieren ein Unternehmen, machen seine Produkte zu Mythen und begründen eine emotionale Beziehung zum Verwender.
Der Status: Facts & Figures
Viele Marken in Pharma und Medizintechnik kommunizieren nur mit Daten und Fakten. Dies führt dazu, dass die Verwender ein sehr nüchternes und rationales Verhältnis zu den Produkten entwickeln. Verschärft wird die Situation, wenn Generika dieselben Zahlen und Fakten kommunizieren. Viele Werbematerialien speziell für Pharmaka bestehen sogar ausschließlich aus Diagrammen zu Studienergebnissen, die außer einer Überschrift und einer Literaturquelle wenig zu bieten haben. Wie soll hiermit eine Emotionalisierung erreicht werden? Es reicht auch nicht aus, wenn man emotionalisierende Key Visuals verwendet, auf die bei der übrigen faktenlastigen Kommunikation kein Bezug mehr genommen wird. Hier ist Konsistenz gefordert, um eine nachhaltige Wirkung zu erreichen.
Konsequenz: Erodierende Marken
Aufgrund der geringen emotionalen Bindung vieler Verwender zum Original sind viele Arzneimittelmarken von Erosion bedroht. So überrascht es nicht, wenn Kampagnen der Hersteller eines Originalpräparates nicht verfangen, die darauf abzielen, den Arzt dazu zu bewegen, ein Kreuz bei »aut idem« zu machen, um so die generische Substitution zu verhindern. Dabei ist die Situation für die Hersteller von Originalpräparaten seit Januar 2011 prinzipiell einfacher geworden. Patienten können auch ohne »aut idem« weiterhin ihr Originalpräparat erhalten, wenn sie die Mehrkosten selbst übernehmen. Doch zu geringe Markentreue hält viele Patienten hiervon ab und auch die Ärzte scheuen bürokratischen Aufwand und verschreiben lieber gleich das rabattierte Präparat.
Gegenmittel Storytelling
Mit Storytelling beschreitet man einen neuen Weg, um über ein Produkt oder ein Unternehmen zu kommunizieren und Emotionen zu wecken. Es geht darum, die Geschichte eines Produkts auf spannende Art und Weise zu erzählen und einen »Mythos« zu schaffen. Hinter der Entdeckung jedes Produkts steckt eine menschliche Seite, eine persönliche Geschichte von Menschen, die Anstrengungen auf sich genommen haben und von Patienten, die hiervon profitieren, z.B. indem sie länger leben oder weniger Beschwerden haben.
Wir gehen bei unserem Ansatz von Storytelling meistens vom Produkt aus und nicht vom Firmengründer, wie es in anderen Branchen häufig zu sehen ist. Wieso? Leider funktioniert der gründerbezogene Ansatz für viele Pharmaunternehmen nicht mehr. Die Ursache hierfür ist, dass sich Gründungsmythen nach Übernahmen, Fusionen oder Umfirmierungen nur noch schwer glaubhaft vermitteln lassen. Hierdurch geht natürlich auch ein Stückweit die Geschichte und Identität eines Unternehmens verloren – und damit die Chance, die Unternehmensgeschichte und Gründernamen für eine spannende und heute noch aktuell wirkende »Story« zu nutzen.
Wie würde Hollywood die Geschichte meines Produkts verfilmen?
Eine gute Story eines Arzneimittels oder Medizinprodukts sollte uns daran erinnern, dass wir etwas bewegen können, dass es sich lohnt Herausforderungen zu meistern, um Menschen zu helfen. Die Protagonisten dieser Story sind das Produkt selbst und die Menschen, die mit ihm zu tun haben. Wie macht man ein Produkt zum Helden? Ein Blick in die Trickkiste der Drehbuchschreiber hilft weiter. Die Taten eines Helden in Mythen, Romanen und Filmen ereignen sich auf einer Heldenreise (»Quest«), die durch typische Situationsabfolgen und Charaktere gekennzeichnet ist. So beschreibt der Disney-Drehbuchautor Christopher Vogler in seinem Buch »The Writer's Journey« 12 Stationen einer Heldenreise. Ob Jäger des verlorenen Schatzes, Star Wars oder König der Löwen: Viele Plots in Hollywoodfilmen sind nach einem ähnlichen Schema konstruiert. Der Ruf der Aufgabe, die anfängliche Weigerung, die entscheidende Prüfung, die Rückkehr mit dem »Elixier«: Stets sind es wenige, sich wiederholende Elemente, nach der erfolgreiche Drehbücher konstruiert sind. Diese Muster sollte auch ein Storyteller in der Healthcare-Kommunikation kennen, bevor er sich daran macht, die Heldengeschichte seines Produkts auf fesselnde Art und Weise zu erzählen.
Der Storytelling-Prozess im Unternehmen
Unternehmen, die noch nie mit Storytelling gearbeitet haben, sollten zunächst einmal einen Piloten starten, um zu testen, ob sie mit diesem Konzept arbeiten wollen. Als erstes muss ein geeignetes Produkt gefunden werden. Aus marketingstrategischer Sicht liegt die Konzentration auf Produkte nahe, die keinen echten USP haben oder bei denen die generische Substitution absehbar ist. Auch sind Produkte, die im eigenen Unternehmen entwickelt, also nicht einlizensiert wurden, grundsätzlich besser geeignet, um hieraus eine identitätsstiftende Geschichte zu entwickeln.
Die weitere Arbeit im Storytelling-Prozess verlangt journalistisches Geschick für die Recherche und besteht darin, mit den Beteiligten aus Forschung, klinischer Entwicklung, Marketing oder auch mit Prüfärzten und Verwendern zu sprechen und Erzählenswertes rund um das Produkt in Erfahrung zu bringen. Immer wichtiger im Marketing wird die Patientenperspektive. Auch Patienten sollten deshalb zu Wort kommen, sie besetzen eine wichtige Rolle in unserer Produktgeschichte.
Typische Fragen, die im Storytelling-Prozess gestellt und beantwortet werden sollten:
- Welche Irrwege wurden beschritten, bis ein Produkt entdeckt wurde?
- Welche externen oder internen Widerstände mussten überwunden werden?
- Welche Karrieren wurden gefördert, was haben Mitarbeiter mit dem Produkt erlebt?
- Was haben Anwender mit dem Produkt erlebt?
- Gibt es Patienten, die von dem Produkt besonders profitiert haben?
Schwächen wirken menschlich
Nach Recherche dieser ganzen Fakten kommt es darauf an, das umfangreiche Material zu bewerten. Diese Bewertung sollte sowohl unter dramaturgischen als auch unter marketingstrategischen Gesichtspunkten erfolgen. Woraus lässt sich eine Story machen? Und was passt unter Marketinggesichtspunkten zur Positionierung eines Produkts? Bei der Beantwortung dieser Fragen braucht es einen gewissen Mut, zuzugeben, dass man vielleicht bei der Entwicklung eines Produkts auch mal einen Irrweg beschritten hat. Vielleicht hat man das Produkt zunächst für eine andere Indikation entwickelt oder glückliche Umstände haben den Erfolg erst möglich gemacht. Irren ist menschlich und macht sympathisch. Nicht diejenigen Helden sind besonders beliebt, die perfekt sind, sondern die, die auch Schwächen zeigen und dadurch menschlich wirken.
Nach Auswahl des Rohmaterials kommt es darauf an, das Ganze zu einer Story zu verdichten. Hier ist Phantasie gefragt und die Fähigkeit zum Dramatisieren. Nicht immer werden sich alle Fakten aufklären lassen, gerade wenn die Zulassung schon viele Jahre zurückliegt. Dann müssen Lücken geschlossen, Erzählstränge zu Ende gedacht werden. Nicht wie es war, ist das Entscheidende, sondern wie es gewesen sein könnte. Nicht die objektive und exakte Dokumentation ist das gewünschte Ergebnis, sondern eine spannende, subjektive Geschichte.
Geeignet für alle Medien
Ob Print, Digital oder Film, prinzipiell eignet sich Storytelling für alle Medien. Hier unterliegt die Entscheidung für ein bestimmtes Medium eher Kostengesichtspunkten und Praktikabilitätserwägungen. Seine stärkste Kraft entfaltet Storytelling, wenn es mündlich geschieht, hier liegen auch seine Wurzeln. Bis vor wenigen Jahrhunderten existierten Geschichten nur in der mündlichen Überlieferung und waren damit einem ständigen Umdeutungsprozess unterworfen. Gerade das machte den Reiz einer Geschichte aus und trug zur Legendenbildung bei. In der Healthcare-Kommunikation spielt der Zeitfaktor eine wichtige Rolle. So wird der Außendienstler bei einem Arztbesuch meistens nicht die Zeit haben, weit auszuholen und eine lange Geschichte zu erzählen, so dass sich hier vielleicht ein Printmedium besser eignet. Anders ist die Situation vielleicht bei einem Imbiss mit Ihrem Kunden auf einer Industrieausstellung oder beim Kongress-Vortrag, den ein Key Opinion Leader für Ihre Firma hält. Gerade in Vorträge können Elemente des Storytelling gut integriert werden und – den richtigen Redner vorausgesetzt – eine große Wirkung entfalten.
Auswahl des Protagonisten
Recherche bei Forschern, Klinikern, Patienten etc.
Materialauswahl unter dramaturgischen und marketingstrategischen Gesichtspunkten
Dramaturgische Verdichtung und Generierung von Stories
Integration der Stories in Kommunikationsmaterialien
Der Storytelling-Prozess in der Healthcare-Kommunikation
Storys für die Mitarbeiter bringen Motivation und Wissen
Gerade die mündliche Form des Storytelling ist besonders geeignet für die interne Kommunikation. Bei der NASA wird Storytelling seit langem erfolgreich eingesetzt, um Mitarbeiter zu motivieren, aber auch, um wertvolles Wissen weiterzugeben. Teresa Bailey, die Initiatorin des Storytelling-Programms der NASA, bringt es auf den Punkt: »Our most important knowledge isn't in a database and it's not in a computer application. It's in our stories.«
Und so lauschen Mitarbeiter der NASA gespannt, wenn Mitglieder des Senior-Managements, bereits pensionierte Ingenieure oder Astronauten bei regelmäßigen Storytelling-Events von Erfolgen, von Beinahe-Erfolgen oder von Rückschlägen erzählen und was sie für Lehren daraus gezogen haben.
Lassen Sie die Forscher erzählen
Auch im Healthcare-Bereich könnte ein solches Programm enorme Motivation für die Mitarbeiter bedeuten. Stellen Sie sich vor: Das Außendienstteam erfährt von dem inzwischen pensionierten Wissenschafter, der vielleicht vor 20 Jahren den Wirkstoff für Ihr Produkt gefunden hat, im persönlichen Gespräch, mit welchen Anstrengungen die Entwicklung verbunden war, wie viele Ansätze scheiterten, welches Glück man letzten Endes hatte usw. Vielleicht zeigt dieser Wissenschaftler alte Dias, Fotos oder handschriftliche Eintragungen in sein Laborbuch – auf eine PowerPoint-Präsentation kann man hier gut verzichten. Durch solche Geschichten und inspirierende persönliche Begegnungen lassen sich Menschen mehr begeistern als durch inszenierte Rollenspiele professioneller Verkaufstrainings und »Teambuildings«. Die Menschen, die dem Geschichtenerzähler zugehört haben, dienen als Multiplikatoren und tragen das Erzählte weiter. So werden Mythen geschaffen, Geschichten lebendig gehalten und wertvolles Wissen verbreitet. Storytelling hat zudem den großen Vorteil, flexibel einsetzbar zu sein. Man hat im Idealfall eine Auswahl an Episoden, die sich budgetschonend in vorhandene Kommunikationsmaterialien integrieren lassen.
Sie müssen nicht gleich ein Buch schreiben
Für Storytelling in der Pharmaindustrie gibt es gelungene Beispiele. Hier das vielleicht bekannteste: Daniel Vasella, ehemaliger CEO von Novartis, hat ein Buch geschrieben über Glivec®, das erste zielgerichtete Medikament in der Onkologie (»Magic Cancer Bullet – How a tiny orange pill is rewriting medical history«). Wohl noch nie hat ein leitender Angestellter eines Pharmaunternehmens so offen und begeisternd über sein Produkt geredet wie in diesem Buch, das sich wie ein Roman liest. Hiervon können andere Firmen lernen. Auch mit Produkten, die vielleicht nicht das schnellste FDA-Approval aller Zeiten bekommen haben – so wie Glivec® – können Geschichten erzählt, Schicksale aufgezeigt und einem Produkt oder Unternehmen ein Gesicht gegeben werden.
Fazit
Mit der Überwindung der nüchternen Kommunikation von Zahlen und Fakten durch Storytelling wird eine emotionale Beziehung zwischen Produkt, Kunden und eigenen Mitarbeitern hergestellt. Ohne allzu großen werberischen Aufwand weckt Storytelling neue Sympathien für ein Produkt und seinen Hersteller. Damit ist Storytelling ein ideales Instrument, um sich gegen generische Konkurrenz zu wehren.