Veröffentlicht in Pharma Relations 2019; 8(19):10-12

Patientenzentrierung durch Partnering mit Patienten

Patienten sind kritischer und mündiger geworden. Diejenigen Unternehmen, die konsequent den Patienten in den Mittelpunkt stellen, werden künftig mehr Erfolg haben. Doch wie genau wird mehr Patientenzentrierung erreicht? Die Antwort lautet: durch Partnering mit Patienten. Wir erklären in diesem Artikel, was das konkret bedeutet und auf was es dabei ankommt.

Wieso mehr Patientenzentrierung?

Die Patientenstimme wird lauter in Deutschland. Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien findet sich die Aussage, dass »Patientenorientierung« das Leitbild der Regierungsparteien für das Gesundheitswesen sei. Exemplarisch zeigt sich der gestiegene Einfluss von Patienten im Gesundheitswesen bei der frühen Nutzenbewertung, wo Patientenvertreter vielfältige Rollen im Bewertungsprozess spielen, auch wenn sie noch keine direkte Entscheidungsgewalt haben. Auch in anderen Bereichen werden Patienten inzwischen vielfach an wichtigen Prozessen im Gesundheitswesen beteiligt, unter anderem bei der Erstellung der Nationalen Versorgungsleitlinien und im Rahmen von Zulassungsentscheidungen des BfArM. Pharmaunternehmen müssen diesen Veränderungen Rechnung tragen, indem sie sich mehr auf Patienten ausrichten.

Veränderung des Mindsets durch Zusammenarbeit

Patientenzentrierung ist eine Managementaufgabe, die bedeutet, Patienten zuzuhören und die Patientenperspektive in allen Unternehmensprozessen zu berücksichtigen. Um von Patienten, aber auch Ärzten und anderen Stakeholdern als patientenzentriertes Unternehmen wahrgenommen zu werden, steht der Aufbau von Vertrauen an vorderster Stelle. Dieses Vertrauen lässt sich am einfachsten dadurch erreichen, dass Pharmaunternehmen mit Patienten tatsächlich zusammenarbeiten, anstatt vollmundige Absichtserklärungen zu platzieren, wie patientenzentriert man doch sei. Im Folgenden zeigen wir, auf welchen Gebieten ein Partnering mit Patienten für die Industrie erfolgsversprechend ist.

Mit Patienten die Krankheitsprozesse besser verstehen

Um gutes Marketing machen zu können, muss man den Markt zunächst verstehen, wobei es für Pharmaunternehmen im Besonderen darauf ankommt, die teilweise sehr komplexen Interaktionsprozesse im Gesundheitswesen zu durchdringen. Die Häufigkeit dieser Interaktionen und deren zeitliche Abfolge wird in erster Linie durch den Krankheitsprozess in den für das Unternehmen relevanten Indikationen bestimmt. Bisher sprechen viele Pharmaunternehmen vorrangig mit Ärzten, um diese Krankheitsprozesse zu verstehen. Aber Ärzte kennen nur einen Teil des Bildes und wissen häufig nicht, was vor der Diagnose passiert, in Behandlungspausen und nach Behandlungsabbruch. Um Krankheitsprozesse vollständig zu erfassen sind Pharmaunternehmen gut beraten, eine Patient Journey zu erstellen und dabei Patienten direkt zu beteiligen. Eine Patient Journey zeigt vereinfacht gesagt den Weg eines Patienten durch seine Erkrankung, angefangen von den ersten Symptomen bis hin zur Nachbeobachtung nach einer erfolgreichen Therapie. Alle Abzweigungen oder Kreuzungen auf diesem Weg sollten dargestellt und mit Motiven und Handlungswahrscheinlichkeiten versehen werden. Durch die visuelle Darstellung einer Patient Journey wird die Komplexität des Prozesses leicht erfassbar. Oft lassen sich dabei neue Ideen für die Optimierung des Marketings finden oder es werden Medical Needs »beyond the pill« erkennbar. Patient Journeys können für den Einsatz in verschiedenen Fachabteilungen adaptiert werden. So wird man für den Einsatz im Market Access beispielsweise Payer und gesundheitspolitische Entscheidungsträger integrieren.

Neben Daten und Zahlen sollte eine vollständige Patientenreise auch Emotionen und Motive von Patienten und anderen Stakeholdern enthalten, die während der Patientenreise in den Vordergrund treten und zum handlungsbestimmenden Motiv werden. Um diese Motive zu erfahren, können mit großem Gewinn Patientenforen analysiert werden. Hier ist es oft überraschend, dass nicht immer rein medizinische Aspekte im Vordergrund stehen, sondern viele Themen in den Bereich »Leben mit der Krankheit« fallen, z.B. Auswirkungen der Krankheit auf die Partnerschaft. Die Patientenreise ist also kein nackter Algorithmus, sondern sie beinhaltet Emotionen und Gefühle. Eine Vorgehensweise zur Entwicklung von Patient Journeys, mit der wir sehr gute Erfahrungen gemacht haben, sieht folgendermaßen aus: Basierend auf eigenen Recherchen entwickeln wir zunächst ein grobes Modell einer Patientenreise. Diese wird dann in einem Workshop mit direkter Beteiligung von Patienten optimiert und verfeinert. Eine Patient Journey sollte regelmäßig aktualisiert werden, wenn neue Daten oder Insights zur Verfügung stehen.


Workshop Patientenreise

Abb.1: Im gemeinsamen Strategie-Workshop mit dem Kunden wird der Grobentwurf einer Patientenreise optimiert

Mit Patienten bessere Patientenmedien entwickeln

Auch bei der Konzeption von Marketingmaterialien und Patientenmedien lohnt sich die Zusammenarbeit mit Patienten. Häufig sieht man in Patientenmedien Wohlfühlwelten, die beliebig wirken, oder Testimonials, die keine Ähnlichkeit mit der Zielgruppe haben. Die Authentizität ist jedoch entscheidend, damit der Patient das Gefühl bekommt, vom kommunizierenden Unternehmen tatsächlich verstanden worden zu sein. Gerade bei digitalen Medien wird oft am konkreten Patientenbedarf vorbei entwickelt. Es geht nicht darum, dass Patientenmedien dem Produktmanager oder der sie erstellenden Agentur gefallen, sie müssen den Patienten gefallen. Nichts ist teurer als Websites, die nicht besucht, und Apps, die nicht genutzt werden. Bevor wir bei co.patient ein digitales Patientenmedium entwickeln, evaluieren wir Bedarf, Akzeptanz und Nutzen. So entstehen digitale Medien, die sich tatsächlich am Patientenbedarf orientieren, die adhärenzsteigernd wirken und die Therapiezufriedenheit erhöhen.

Zusammenarbeit mit Patientenorganisationen und Expertenpatienten

Patienten – und dies gilt insbesondere für chronische Erkrankungen – sind inzwischen oft selbst Experten für ihre Erkrankung. Besonders interessant ist für die Industrie die Zusammenarbeit mit sogenannten Expertenpatienten. Expertenpatienten sind Spezialisten für eine bestimmte Indikation, verfügen über die Fähigkeit, dieses Wissen zu artikulieren, und sind bereit, sich mit Pharmaunternehmen auszutauschen. Analog zur Zusammenarbeit mit Ärzten, die häufig in Form von Advisory Board Meetings stattfindet, kann auch die Zusammenarbeit mit Patienten in Form von »Patient Advisory Meetings« institutionalisiert werden. Bei der Durchführung sollten Pharmaunternehmen darauf achten, dass die Veranstaltung keinen Werbecharakter bekommt und Patienten möglichst neutral informiert werden. Im Vordergrund sollte auf jeden Fall die Beratung des Pharmaunternehmens durch die Patienten stehen. Felder der Zusammenarbeit gibt es viele: Patienten können wertvolle Impulse geben bei der Planung klinischer Studien, zum besseren Verständnis von Krankheitsprozessen beitragen oder – wie bereits erwähnt – wertvolles Feedback zu Marketingmaterialien geben. Im Gegensatz zu vielen Ärzten sind Patienten oft dankbarer, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden, davon können Pharmaunternehmen profitieren. Patient Advisory Meetings sind außerdem ideal geeignet, die Patientenorientierung der beteiligten Mitarbeiter zu steigern. Auch für Mitarbeiter, die innerhalb der Unternehmensorganisation weiter weg vom Patienten sind, können diese Meetings eine bereichernde Erfahrung darstellen und gleichzeitig ihre Patientenorientierung steigern. Neben den Expertenpatienten verfügen natürlich auch viele Patientenorganisationen über ein fundiertes Wissen, wie Patienten ihre Krankheit erleben und welche Bedürfnisse sie bei deren Bewältigung haben. Allerdings sind nicht alle Patientenorganisationen offen für eine Zusammenarbeit mit der Industrie, andere haben einen speziellen politischen Fokus. Hier muss man projektspezifisch entscheiden, wo eine Kooperation möglich oder sinnvoll ist.

Patientenprogramme

Patientenprogramme sind ein weiteres Spielfeld zum Partnering mit Patienten. Das Ziel der meisten Patientenprogramme ist die Steigerung der Adhärenz. Non-Adhärenz ist ein großes Problem für das deutsche Gesundheitssystem mit geschätzten Kosten von ca. 10 Mrd. Euro pro Jahr. Dabei entstehen die Kosten insbesondere durch vermeidbare Krankenhausaufhalte. Payer sind für die Kosten der Non-Adhärenz besonders sensibilisiert. Das wirksamste Instrument zur Adhärenzsteigerung sind Patientenprogramme, also eine auf den Patienten zugeschnittene Kommunikation und Beratung. Patientenprogramme sind ein hervorragendes Argument in Verhandlungen mit Payern, zeigen sie doch das Commitment des Pharmaunternehmens, die Patientenversorgung über das Notwendige hinaus zu verbessern. Durch die Digitalisierung lassen sich Patientenprogramme heute oftmals kosteneffizienter umsetzen als früher, zunehmend auch mit Apps. Auch können durch Patientenprogramme Real-World-Daten erhoben werden, die im Marketing nutzbringend verwendet werden können, z. B. für Marktanalysen. Viele Ärzte erwarten gerade bei chronischen Indikationen von der Pharmaindustrie Patientenprogramme zu ihrer eigenen Entlastung und zur Steigerung der Patientenadhärenz. Das Fehlen von Patientenprogrammen kann somit zu Akzeptanzproblemen bei Patienten, Ärzten und Payern führen. Für die Konzeption und erfolgreiche Umsetzung eines Patientenprogramms ist die Patientensicht unabdingbar, hierbei sollte man sich keinesfalls nur auf Ärzte verlassen.

Kodexkonforme Umsetzung der Zusammenarbeit

Falls Ihr Pharmaunternehmen Mitglied im FSA ist, sollte unbedingt auf eine kodexkonforme Zusammenarbeit mit Patienten geachtet werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Unternehmen direkt mit Patienten Verträge abschließen oder eine Agentur dazwischengeschaltet ist. Zur kodexkonformen Zusammenarbeit gehört, dass Patienten oder Patientenorganisationen nur dann Honorare erhalten dürfen, wenn die vertraglichen Leistungen »Zwecken des Gesundheitswesens« dienen. Mit dem Vertragsschluss darf keine Verpflichtung verbunden sein, bestimmte Arzneimittel zu empfehlen. Die FSA-Mitgliedsunternehmen müssen die Summe der Geld- und Sachzuwendungen an Patienten oder Patientenorganisationen veröffentlichen. Auch dürfen sie von Patienten oder Patientenorganisationen nicht verlangen, dass diese mit keinem anderen Pharmaunternehmen zusammenarbeiten. Für Medizintechnikunternehmen sieht der einschlägige Kodex ähnliche Regularien vor.

Institutionalisierung der Patientensicht im Unternehmen

In unserer Erfahrung ist die konkrete Arbeit mit Patienten die effektivste Methode, um die Patientenorientierung der Mitarbeiter und damit die Patientenorientierung des gesamten Unternehmens zu steigern. Darüber hinaus gibt es natürlich weitere Maßnahmen, die für Patientenzentrierung sorgen, wie die Institutionalisierung der Patientensicht im Unternehmen, etwa durch Aufbau einer Abteilung für »Patient Relations« oder Ernennung von Patientenbeauftragten. Es hat für Unternehmen Vorteile, die Patientensicht auf diese Art und Weise zu institutionalisieren, da es dann eine klare Verantwortlichkeit für das Partnering mit Patienten gibt. Allerdings fallen Budgets, Entscheidungsbefugnisse und Partizipation in relevanten Projekten bei Abteilungen für Patient Relations von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich aus; teilweise besteht hier deutlicher Verbesserungsbedarf. Unabhängig hiervon sollte aus unserer Sicht der Kontakt mit Patienten in einem Unternehmen möglichst breit gestreut sein, um die Patientenzentrierung der gesamten Organisation zu steigern.

Hospitationen, Schulungen und Krankheitsparcours

Viele Mitarbeiter in Pharmaunternehmen empfinden den direkten Kontakt mit Patienten als belebend und sinnstiftend für ihre Arbeit. Insofern bietet es sich an, Mitarbeiter zu Hospitationen zu kooperierenden Ärzten zu schicken. Uns sind viele Fälle bekannt, wo solche Hospitationen auf Mitarbeiterseite zu unvergesslichen Erlebnissen geführt haben, von denen sie in ihrem gesamten Arbeitsleben profitieren. Hospitationen können durch den Außendienst relativ leicht vermittelt werden.

Für Mitarbeiter von Pharmaunternehmen, die noch nie mit Patienten in Kontakt standen, bietet es sich an, zunächst Schulungen zu besuchen, um nicht schon im ersten Schritt der Kontaktaufnahme mit Patienten Fehler zu machen. Hierfür haben wir in unserer co.patient Academy ein umfangreiches Seminarprogramm entwickelt. Als Experten für Patienten zeigen wir in unseren Seminaren und Workshops, wie Unternehmen Partnering und Kommunikation mit Patienten erfolgreich planen und optimieren können.

Eine weitere flankierende Maßnahme auf dem Weg zu mehr Patientenorientierung sind Krankheitsparcours. In einem Krankheitsparcours werden Erkrankungen erlebbar gemacht, um so Krankheitsverständnis und Empathie bei Gesunden, etwa Mitarbeitern, Journalisten, Gesundheitspolitikern usw., zu steigern und für das richtige Mindset zu sorgen. So können etwa bei Multipler Sklerose mit speziellen Brillen Visusstörungen simuliert oder mit Handschuhen Sensibilitätsausfälle nachvollziehbar gemacht werden. Ein solcher Krankheitsparcours kann z.B. auch im Foyer von Unternehmen aufgebaut oder als Wanderausstellung anderen Länderniederlassungen zur Verfügung gestellt werden.

Entwicklung einer Patientenstrategie

Welche der aufgezeigten Maßnahmen für Pharmaunternehmen auf dem Weg zu mehr Patientenorientierung angezeigt sind, sollte im Rahmen der Entwicklung einer übergeordneten Patientenstrategie entschieden werden. Der erste Schritt in einem solchen Projekt ist die sorgfältige Analyse. Konkret werden dabei u.a. folgende Fragen analysiert:

  • Welche Instrumente, Methoden und Konzepte werden im Partnering mit Patienten bereits eingesetzt?
  • Wie kann der Bereich bzw. das Unternehmen von mehr Patientenzentrierung profitieren?
  • Welche Strukturen hat der Bereich bzw. das Unternehmen, um das Partnering mit Patienten zu optimieren?
  • Welche Ziele sind im Partnering mit Patienten realistisch?


Entwicklung Patientenstrategie

Abb. 2: Entwicklung einer Patientenstrategie

Erfolgsmessung

Eine besondere Herausforderung ist die Entwicklung von KPIs zur Messung der Patientenzentrierung. Wir differenzieren zwischen internen und externen KPIs. Interne KPIs zeigen ausgehend vom Status quo, wie die eingesetzten Maßnahmen die Patientenzentrierung eines Geschäftsbereiches verändern. Externe KPIs lassen sich durch die strukturierte Befragung von Patienten, Ärzten und weiteren Stakeholdern wie Krankenkassen erheben, wobei auch untersucht werden sollte, wie relevant die Patientenzentrierung eines Unternehmens für Entscheidungen dieser Stakeholder ist, z.B. Listung, Verordnungsentscheidungen, Rabattverträge etc.

Fazit

Die Patientenzentrierung eines Pharmaunternehmens ist ein kritischer Erfolgsfaktor für den Unternehmenserfolg. Partnering mit Patienten ist ein effektives Mittel, die Patientenzentrierung einer Organisation zu steigern. Welche konkreten Maßnahmen hier sinnvoll sind, sollte im Rahmen einer übergeordneten Patientenstrategie entschieden werden