Michael Barth, M. Sc., Dr. Bastian Thaa, Dr. Malte Moos, Dr. med. Marc Esser (veröffentlicht in Market Access & Health Policy 2022; 12(2): 24–26)
Lebensqualität im AMNOG
Der Mehrwert von Lebensqualitätsdaten in der Nutzenbewertung
Die Berücksichtigung der Lebensqualität wird in der Nutzenbewertung regelhaft eingefordert und spielt eine entscheidende Rolle in der Bewertung des Zusatznutzens. Wir geben einen Einblick in die derzeitige Praxis und analysieren die Nutzenbewertungsverfahren der letzten fünf Jahre, um die Relevanz von Lebensqualitätsdaten für den Zusatznutzen zu erfassen.
Einleitung und Definition
Die Berücksichtigung der Lebensqualität beim Patienten-Nutzen ist in der Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln in Deutschland im Sozialen Gesetzbuch (SGB) gesetzlich verankert. Im § 35 Absatz 1b Satz 5 SGB V ist festgelegt: »Beim Patienten-Nutzen sollen insbesondere die Verbesserung des Gesundheitszustandes, eine Verkürzung der Krankheitsdauer, eine Verlängerung der Lebensdauer, eine Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität (…) angemessen berücksichtigt werden.« Die Lebensqualität ist also neben der Mortalität, der Morbidität und den unerwünschten Ereignissen ein obligates Kriterium in der Nutzenbewertung. Im Gegensatz zu den objektiven klinischen Kriterien wird die Lebensqualität als sogenanntes »Patient Reported Outcome« (PRO) gemessen. Dabei wird das subjektive Empfinden des Patienten als Kriterium für den Therapieerfolg gewertet.
In der Nutzenbewertung wird der Begriff »gesundheitsbezogene Lebensqualität« als Konstrukt für die Lebensqualität verwendet, eine einheitliche Definition für den Begriff gibt es bis heute allerdings nicht. Allgemein wird unter gesundheitsbezogener Lebensqualität das subjektive Wohlbefinden in wichtigen Lebensbereichen verstanden und umfasst körperliche, psychische, soziale, familiäre sowie arbeitsbezogene Faktoren. Im Gegensatz zur allgemeinen Lebensqualität ist die finanzielle Situation kein Faktor der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.
Die Erhebung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist insbesondere dann wichtig, wenn das wesentliche Wirksamkeitskriterium nicht die Verlängerung der Lebenszeit oder eine Heilung ist. Aber selbst bei progredienten Krebs-Erkrankungen spielt die Lebensqualität für Patienten eine große Rolle, vor allem dann, wenn die Lebenszeit stark begrenzt ist und es darum geht, die letzte Zeit für den Patienten möglichst annehmbar zu gestalten. Eine alleinige Verlängerung der Lebenszeit im Rahmen von wenigen Wochen oder Monaten reicht als Gesamtnutzen-Kriterium nicht aus, wenn durch die Therapie die Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigt wird. Entsprechend wird in Nutzenbewertungsverfahren oft das Fehlen von Lebensqualitätsdaten bemängelt.
Die Messung der Lebensqualität
Je nach zugrundeliegender Erkrankung sind die zu erfassenden Kriterien der Lebensqualität unterschiedlich. Die jeweilige Lebenssituation des Patienten muss in der Messung der Lebensqualität abgebildet sein, sonst ist eine adäquate Messung der Lebensqualität nicht möglich. Die geeigneten Kriterien zur Erfassung müssen vorab sorgfältig definiert werden und präzise messbar sein. Zur Beurteilung der empirischen Evidenz gelten dabei die Gütekriterien von sozialempirischen Erhebungen: die Objektivität, die Reliabilität und die Validität. Durch die einerseits individuelle qualitative Erhebung und die Mehrdimensionalität der einzelnen Kriterien und andererseits die hohen Anforderungen an die Gütekriterien ist die Erfassung und Auswertung der einzelnen Faktoren alles andere als trivial.
Die Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfolgt anhand von Fragebögen oder Befragungen. Grundsätzlich unterscheidet man generische und krankheitsspezifische Fragebögen. Generische Fragebögen, wie beispielsweise der SF-36, können bei verschiedensten Krankheitsbildern angewendet werden. Speziell der SF-36 ist weltweit etabliert und wird regelhaft vom G-BA in den Nutzenbewertungsverfahren gefordert. Krankheitsspezifische Fragebögen werden hingegen für bestimmte Erkrankungen entwickelt und angewendet. Sie erfragen insbesondere spezifische Beeinträchtigungen durch die vorliegende Erkrankung. Krankheitsspezifische Fragebögen werden ebenfalls regelhaft vom G-BA gefordert, allerdings macht der G-BA hier weniger Vorgaben und empfiehlt häufig in den Beratungen nur deren Verwendung ohne Angabe, welcher Fragebogen zur Erfassung der krankheitsspezifischen Lebensqualität angewendet werden soll. Das lässt dem Pharmaunternehmen einerseits Freiräume, andererseits bestehen hohe Hürden in der Anerkennung von krankheitsspezifischen Fragebögen. Bisher gibt es dafür kein einheitliches Vorgehen in der Anerkennung und Bewertung.
IQWiG und G-BA stellen für die Erfassung und Bewertung der Lebensqualität allgemein die gleichen hohen Anforderungen wie in den anderen Nutzendimensionen: So werden Belege für die Gütekriterien Validität, Reliabilität, Sensitivität, Vergleichbarkeit und Repräsentativität der eingesetzten Fragebögen gefordert. Bei der Entwicklung des Fragebogens sollten Patienten involviert sein, eine Validierungsstudie in der relevanten Indikation sollte vorliegen bzw. eine (Re-)Validierung in der verwendeten Studie oder in einer Pilotstudie erfolgen, und die Änderungssensitivität sollte evaluiert werden. Weiterhin sollten möglichst vollständige Daten vorliegen, Messzeitpunkte zwischen den Gruppen identisch sein und Messungen auch zum Zeitpunkt des Studienabbruchs erfolgen. Bei fehlenden Werten sollten vorab spezifizierte Sensitivitätsanalysen durchgeführt werden, um den Einfluss der fehlenden Werte und der ggf. angewandten Imputationsmethode zu beurteilen. Als adäquat werden statistische Modelle für longitudinale Datenanalysen angesehen, in der Auswertung sollen die über den Studienverlauf ermittelten Informationen vollständig berücksichtigt werden, zum Beispiel mittels MMRM-Analyse (Mixed Model Repeated Measures), sofern möglich. Bei Responderanalysen wird seit Version 6.0 des IQWiG-Methodenpapiers eine Veränderung um 15 % der Skalenspannweite als plausibler Schwellenwert erachtet, der eine »hinreichend sicher spürbare Veränderung« abbildet.
In der Bewertung von Orphan Drugs gibt es im Vergleich zu Nicht-Orphan Drugs laut G-BA keine methodischen Unterschiede, außer der geringeren Fallzahl. Damit ist die Erhebung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Orphan Drugs grundsätzlich ebenfalls gefordert.
Allerdings sollten laut EUNetHTA Daten zur Lebensqualität aufgrund der methodischen Anfälligkeiten für Verzerrung nicht als primärer Endpunkt und nicht als einziger Endpunkt im HTA verwendet werden, sondern immer zusammen mit Mortalitäts- und Morbiditätsendpunkten bewertet werden.
Gesundheitsbezogene Lebensqualität in aktuellen Verfahren der frühen Nutzenbewertung
Die Lebensqualität wurden seit Beginn des AMNOG durch den G-BA in der Nutzenbewertung berücksichtigt. Bisher wurden insgesamt 664 Verfahren mit vergebenem Zusatznutzen vom G-BA abgeschlossen (alle Verfahren mit Beschluss bis zum 01.01.2022). Davon wurden in 307 Nutzenbewertungserfahren (46 %) vom G-BA Daten zur Lebensqualität herangezogen. Während die Anzahl der Verfahren mit Berücksichtigung der Daten zur Lebensqualität stetig wuchs, blieb der Anteil an den Nutzenbewertungsverfahren im Zeitverlauf ähnlich. So war der Anteil im Jahr 2012 und 2021 mit 42 Prozent identisch, im Jahr 2013 mit 40 Prozent am niedrigsten und 2020 mit 54 Prozent am höchsten (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Abgeschlossene Nutzenbewertungsverfahren nach Jahr und Lebensqualitätsdaten
Daten zur Lebensqualität und Anerkennung eines Zusatznutzens
Wir haben alle Nutzenbewertungsverfahren seit 2017 mithilfe der AMNOG-Datenbank von Pharm-Analytics analysiert und die Verfahren erfasst, in denen der G-BA bei der Beschlussfassung Lebensqualitätsdaten einbezogen hat. Seit 2017 wurden von insgesamt 442 abgeschlossenen G-BA-Verfahren in 208 Verfahren Daten zur Lebensqualität herangezogen. Von den 208 Verfahren zeigte sich in 54 Verfahren ein positiver Effekt in den Daten zur Lebensqualität, das sind 26 % der Verfahren, in denen die Lebensqualitätsdaten durch den G-BA berücksichtigt wurden. In Orphan-Verfahren wurden Daten zur Lebensqualität im Gegensatz zu Nicht-Orphan-Verfahren anteilig häufiger herangezogen (54 versus 43 %). Legt man die Therapiegebiete des G-BA zugrunde, so wurden Daten zur Lebensqualität absolut am häufigsten bei onkologischen Erkrankungen berücksichtigt (n = 113), demgegenüber wurden im Therapiegebiet »Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems« Daten zur Lebensqualität relativ am häufigsten berücksichtigt (69 %). Bemerkenswert ist, dass im Therapiegebiet »Psychische Erkrankungen« keine Daten der Lebensqualität durch den G-BA herangezogen wurden.
Tabelle 1: Höchster vergebener Zusatznutzen (alle Verfahren mit Bewertung des Zusatznutzens von 2017 bis 2021)
Werden Daten zur Lebensqualität durch den G-BA in der Bewertung herangezogen, wird häufiger ein höherer Zusatznutzen durch den G-BA bescheinigt. Mit einer Ausnahme sind in allen Verfahren, in denen der höchstmögliche Zusatznutzen »erheblich« erteilt wurde, auch Lebensqualitätsdaten herangezogen worden (6/7, 86 %). Hingegen wurden Lebensqualitätsdaten nur in einer Minderheit der Verfahren herangezogen, in denen kein Zusatznutzen erteilt wurde (51/193, 26 %), siehe Tabelle 1. Die einzelnen Diagramme in Abbildung 2 zeigen zwischen den Verfahren mit und ohne Berücksichtigung von Lebensqualitätsdaten eine deutlich unterschiedliche Verteilung des vergebenen Zusatznutzens: Während bei Verfahren ohne herangezogene Lebensqualitätsdaten die anteilig meisten Verfahren einen nicht belegten Zusatznutzen zeigen, ist die Verteilung bei Verfahren mit herangezogenen Lebensqualitätsdaten zwischen den vergebenen Zusatznutzen fast ausgeglichen. Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass Verfahren, bei denen der G-BA Daten zur Lebensqualität herangezogen hat, ein deutlich besseres Outcome erreicht haben als die Verfahren, bei denen Daten zur Lebensqualität nicht herangezogen wurden.
Abbildung 2: Ausmaß des Zusatznutzens in allen Verfahren (2017 bis 2021) sowie Verfahren mit bzw. ohne herangezogene Lebensqualität, prozentual. Geringerer Nutzen nicht dargestellt.
Allerdings gewährleisten Daten zur Lebensqualität nicht automatisch einen Zusatznutzen – die Datenerhebung und -darstellung muss auch den hohen methodischen Anforderungen des G-BA genügen (vgl. Infokasten). Vom G-BA herangezogene Lebensqualität kann als Indikator für hochwertige Studien angesehen werden. Diese Studien müssen entsprechend gut geplant und durchgeführt werden, damit die Daten zur Lebensqualität durch den G-BA für die Nutzenbewertung herangezogen werden können. Eine gute Evidenzgrundlage ist die Voraussetzung für einen höheren Zusatznutzen und auch die Berücksichtigung der Lebensqualität.
Fazit
In der Planung der Zulassungsstudie sollten nach Möglichkeit bereits in der Indikation validierte Fragebögen berücksichtigt werden. Die gute Planung, Durchführung und Auswertung der Studien ist sehr wichtig, Bei der Erhebung von Lebensqualitätsdaten gilt es die hohen methodischen Anforderungen des G-BA zu berücksichtigen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Lebensqualitätsdaten in der Nutzenbewertung angemessen berücksichtigt werden und einen höheren Zusatznutzen bringen. Die Bedeutung der Lebensqualität in der Nutzenbewertung wird immer wichtiger, auch im geplanten »Euro-HTA« wird die Lebensqualität ein wesentliches Bewertungskriterium sein.
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